Weltrekord im Dauer-Beat. Im Dauer-Beat?

Das Streben nach Superlativen ist nicht erst eine Erfindung des späten 20. Jahrhunderts. Schon in den Sechzigern waren immer ein paar Verrückte auf Rekorde versessen. Und um dann noch richtig auf die Sahne zu schlagen, wurde der Rekordversuch der ehrwürdigen Jury des Guinness Book of Records angekündigt. Warum also nicht mal einen Rekord im Dauer-Beat aufstellen, fragten sich fünf junge Wanne-Eickeler. Für alle jungen Leser: „Beat“ war so etwas wie der „Brit Pop“ der sechziger Jahre. Und ohne Beat hätte es den Brit Pop 30 Jahre später nicht gegeben. Aber das ist eine andere Geschichte.

Nightbirds nannten sich die Wanne-Eickeler, die trotz ihres kurzen Bestehens bereits als Lokalmatadoren galten. Ihre Fans gingen davon aus, dass die Nightbirds den erst kurz zuvor aufgestellten Rekord einer holländischen Gruppe toppen könnten. Als Austragungsort bot sich das ehemalige Gemeindehaus der Christuskirche an der Hauptstrasse an. Dort hatten vorübergehend die Falken ihr Jugendheim eingerichtet, eine der wenigen öffentlichen Einrichtungen, die mit der Krawallmusik keine Berührungsängste hatten. Im Gegenteil: Renate und Alfred Füllner, die Leiter des Jugendheims, verstanden es, mit geschickter PR den Ehrgeiz der Nightbirds zu kitzeln. Mit einem Weltrekordversuch ließe sich Beatmusik nicht nur aus der Schmuddelecke holen, sondern auch in die Medien bringen – so ihre Überlegung. Medien, das waren damals drei Lokalzeitungen, die ARD und das ZDF. Und wenn man erst einmal das Fernsehen für die Schnapsidee begeistert hätte, muss es ja auch mit den Lokalzeitungen klappen.

Das Fernsehen in Köln oder Mainz für eine Berichterstattung aus dem popeligen Wanne-Eickel zu interessieren, ließ sich am besten über eine Kombination aus Weltrekord und wohltätigem Zweck realisieren. Erste Adresse war Peter Frankenfelds „Vergissmeinicht“ – hier wurde für die Aktion Sorgenkind gespendet wie wild – und es gab natürlich auch Rekorde, über die mit kleinen Einspielern berichtet wurde. Die Sendung hatte Einschaltquoten, die nur noch Kuli (Hans Joachim Kuhlenkampff) toppen konnte. Neudeutsch in „Reichweite“ oder „Marktanteil“ ausgedrückt: nahe 100 Prozent.

Renate Füllner meldete die Jungs an – und das Fernsehen kam wirklich. Was selten war im Wanne-Eickel der damaligen Jahre, denn wenn ein Team sich mal nach Wanne-Eickel verirrte, dann höchstens, um einen Dokumentarbeitrag über den Bergbau zu drehen. Jetzt also die TV-Abteilung „Unterhaltung“, und es wurde ernst für die Nightbirds. Ohne vernünftige Vorbereitung wurde der Tag des Rekordes angesetzt, am Samstag, 17. Dezember 1966 um 17 Uhr sollte es losgehen. Pünktlich drängelten sich Heerscharen von Wanne-Eickels Beatjüngern vor dem Falkenheim – nur einer fehlte: Nightbirds-Bassist Reinhard Ratajczak kam nicht rechtzeitig aus Süddeutschland in die Heimat. Die Party lief ohne ihn – und auch ohne viele Zuschauer. Statt die Nightbirds im Saal spielen zu lassen, fand die Rekordveranstaltung im kleinen Keller des Heims statt. Wer das Glück hatte reinzukommen, wurde bald wieder rausgeschleust, damit auch andere gucken konnten.

Die Nightbirds spielten zuerst mit Vollgas, dann mit Halbgas und schließlich so, wie es Müdigkeit, zerschundene Finger und strapazierte Stimmbänder noch zuließen, wie Augen- und Ohrenzeugen der späten Abendstunden zu berichten wussten. Und sie spielten das ganze Set ohne etatmäßigen Bassisten. Dieter Nitsche, eigentlich Organist der Nightbirds, übernahm Ratajczaks Rolle. Präzise festgelegte kurze Pausen wurden zum Pinkeln, Essen und zur Maniküre genutzt. Am nächsten Mittag waren die Nightbirds fertig, mit über 21 Stunden Dauerbeat der holländische Rekord gebrochen, die jüngeren Wanne-Eickeler schwer begeistert und die älteren etwas ratlos. Jetzt hatte man zwar vier Weltrekordler in der Stadt - aber was für welche. Beat war in ihren Augen ein genauso großer Unfug wie - sagen wir mal - „3-Wochen-auf-einem-Pfahl-sitzen“.

Den Live-Bericht in Vergissmeinicht gab es aus unerfindlichen Gründen zwar nicht, dafür durften die Jungs aber mal bei Peter Frankenfeld reinschauen. Wenn ich mich an die Sendung noch richtig erinnere, standen die Nightbirds im Fernsehen nur herum, Instrumente in der Hand und ein kurzes Shakehands mit dem großen Showmaster. Vielleicht haben sie auch die Hand von Walter Sparbier geschüttelt. Aber wie gesagt, so genau erinnere ich mich nicht mehr daran.

In Wanne wurden unsere Helden dann noch einmal richtig gefeiert. Zwar nicht, wie es sich gehört hätte, mit einem blumengeschmückten Autokorso zum Rathaus, wo ihnen der Oberbürgermeister die Ehrenbürgerurkunde verlieh, sondern nur in der Fußgängerzone, die damals noch keine war. Während wilde Gerüchte kursierten, dass Dieter Nitsche in einer Rock-Oper die Hauptrolle übernehmen sollte, nutzte Radio Fliegner die Gunst der Stunde. Wobei sie allerdings die Popularität der Nightbirds unterschätzt hatten. Das Obergeschoss von Fliegner war zur Hauptstraße hin komplett verglast. Hinter dieser Scheibe standen nun die Nightbirds und machten Musik. Das Publikum stand draußen und hörte von der Gruppe nur, was durch die Scheibe dröhnte und über kleine Lautsprecher nach draußen schepperte. Was der allgemeinen Begeisterung aber nicht den geringsten Abbruch tat. Im Gegenteil: Der Andrang wurde schon am ersten Tag so groß, dass weder Straßenbahn noch Autos an der Menschentraube vorbeikamen.

Wannes Ordnungshüter dachten nicht im Traum daran, den Verkehr für eine Stunde umzuleiten und uns unseren Spaß zu lassen. Das Konzert wurde kurzerhand abgebrochen, die Zuschauer von der Fahrbahn gescheucht und die noch geplanten Auftritte der Nightbirds abgesagt. Wanne-Eickel konnte aufatmen. Die Fußgängerzone kam erst ein paar Jahre später. Da allerdings gab es die Nightbirds und Radio Fliegner nicht mehr. Und auch keine Jugendlichen, die sich dort noch gerne versammeln wollten.

Pre-Nightbirds: die Roandunners auf der Bühne im Heisterkamp - links Rainer Ratajczak, Mitte J.G. Fritz, rechts Reinhard Michalak.

So konnte man die Wanne-Eickeler im TV sehen.

Der etatmäßige Bassist Reinhard Ratajczak war beim Weltrekord nicht dabei.

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